Erfahrungsbericht*

Opposition gegen Lesen und Schreiben - Ein Fallbericht

 

Die Ausgangslage

"Und wenn das Kind dann in die Schule hineinkommt, dann tritt einem eben das entgegen, dass das Kind am meisten Opposition hat gegen das Lesen und Schreiben. Denn nicht wahr, da ist ein Mann: er hat schwarze oder blonde Haare, er hat eine Stirne, Nase, Augen, hat Beine, er geht, greift, sagt etwas, er hat diese oder jene Gedankenkreise - das ist der Vater. Nun soll das Kind aber das Zeichen da - Vater - für den Vater halten. Es ist gar keine Veranlassung, dass das Kind das für den Vater hält. Nicht die geringste Veranlassung ist dazu da. ..." (1)

 

Eigentlich seltsam, was Rudolf Steiner hier so apodiktisch feststellt! Wenn wir Erstklässler beobachten, scheinen die meisten ABC-Schützen doch eher höchst motiviert zu sein, Lesen und Schreiben zu lernen. Einige können es ja sogar schon ein bisschen. Und wer sich lieber Zeit lässt mit dem Lesen-und-Schreiben-Lernen, steht zumindest in der ersten Klasse auch nicht gleich im Verdacht, wirklich "Opposition" gegen die Buchstaben zu haben.

 

Gleichwohl gibt es sie: diese "oppositionellen" Kinder, die tatsächlich nicht die geringste Veranlassung verspüren, sich für die sinnlosen kleinen Zeichen zu interessieren, die von den Erwachsenen Buchstaben genannt werden. Es gab sie zu Rudolf Steiners Zeiten und es gibt erst recht heute. In meiner Beratungstätigkeit mit legasthenischen Kindern und Jugendlichen erlebe ich das bei jedem Erstgespräch!

 

Trotzdem war Jacob, von dem ich hier berichten will, auch für mich ein besonderer "Fall". Ich traf ihn im November des vorletzten Jahres. Er war damals fast 7 Jahre alt und ging in die erste Klasse einer konfessionellen Grundschule. Schon nach einem Vierteljahr war den Eltern und der Lehrerin klar geworden, dass Jacob offensichtlich keinen Bezug zu den Buchstaben herstellen konnte. Der gut durchdachte Leselerngang mit der Fu-Fibel (2), gestützt mit Lautgebärden ... die liebevolle Unterstützung durch die Lehrerin ... das häusliche Üben ... die Ergotherapie - nichts hatte geholfen; es war keinerlei Land in Sicht. Jacob konnte noch keinen der bislang durchgenommenen neun Buchstaben (A,a, F,f; U,u; R,r; T,t; M,m; L,l; I,i; H,h) wiedererkennen und benennen - auch nicht die in der Schule benutzten Lautbezeichnungen der Buchstaben.

 

Natürlich hatten mich die Eltern darüber in Kenntnis gesetzt, dass bei Jacob schon zur Kindergartenzeit verschiedenartige Probleme aufgetaucht waren, dass man "Defizite" und "Wahrnehmungsstörungen" bei ihm diagnostiziert und therapiert hatte. Aber meine Herangehensweise ist anders, nicht defizit-orientiert, sondern ressourcen-orientiert. Ich will nicht wissen, was einem Kind fehlt, sondern finden, was es besitzt.

 

Beim Kennenlerngespräch saß mir ein kleiner, sehr munterer Strahlemann gegenüber - ein cleverer Schachspieler übrigens, wie sich später herausstellte -, von dem mir schnell klar wurde, dass er ein hervorragender Bilddenker sein musste. Ich wollte versuchen, mit ihm einen Weg zu finden, auf dem er mit seiner Art der Wahrnehmung die Buchstaben, diese seltsamen Zeichen, verstehen lernen kann.

 

Dabei war ich mir eines zwangsläufigen Konflikts bewusst: Jacob war zur Zeit nicht im Geringsten motiviert, Lesen und Schreiben zu lernen, und ich hatte nicht vor, ihn zu etwas zwingen, aber der gesellschaftliche (und nicht zuletzt familiäre) Druck, dass "jetzt endlich was passieren" musste, wurde täglich stärker. Wie kann man die abendländischen Kulturtechniken erlernen, ohne im Wesen "verbogen" zu werden? Oder auf mich bezogen: Wie kann ich jemandem die Buchstaben beibringen, der eine "Opposition hat gegen das Lesen und Schreiben"?

 

In meiner Beratungstätigkeit habe ich es gewöhnlich mit "fertigen" Legasthenikern zu tun, d.h. meine jüngsten Schüler sind mindestens acht Jahre alt; sie haben schon ein Bewusstsein darüber, dass sie ein Problem mit dem Lesen und Schreiben haben, und wünschen eine Verbesserung. Bei Jacob ging es jetzt erstmals darum, einen "Legastheniker" - und alles sprach dafür, dass er dieses Etikett in spätestens zwei Jahren tragen würde - zu alphabetisieren und dies hoffentlich so, dass die Schublade "Lernbehinderung" für die Zukunft geschlossen bleiben kann.

 

In meinem Buch "Rätsel Legasthenie" (3) hatte ich die These aufgestellt, dass eine konkrete, d.h. geradezu wortwörtliche Anwendung der Angaben von Rudolf Steiner zum Schriftspracherwerb zu einer erfolgreichen Alphabetisierung von Bilddenkern führen müsste und dass dies mit der Symbolbeherrschungsmethode von Ronald Davis (4) hervorragend unterstützt werden könne. Nun kam mir hier in Gestalt des kleinen Jacob quasi eine "Versuchsperson" für meine These entgegen. Dies war eine kritisch zu reflektierende Situation: Mein Tun und Lassen musste ja von dem Respekt vor Jacobs Persönlichkeit bestimmt werden und nicht von meinem "Forscherdrang".

 

"Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Mensch veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden?" (5)

 

 

Vorgespräch I

Bei unserem ersten Treffen entschloss ich mich spontan, Jacob nicht die frustrie-renden "Mal-sehn-was-du-alles-kannst-bzw.-nicht-kannst-Tests" machen zu lassen, sondern ihm von Anfang an einen anderen Weg zu den Buchstaben zu zeigen, als ihn die Schule ihm bis jetzt angeboten hatte.

 

Kurz entschlossen nahm ich ein Blatt Papier und einen herumliegenden Kugelschreiber:

 

"Jacob, schau mal den schönen roten Mund von deiner Mama an. Ich zeig dir mal, wie die Buchstaben entstanden sind. Zum Beispiel von einem Mund ist ein Buch-stabe gekommen. So wie hier der Mund."

 

(Ich zeichnete einen "Mund" aufs Papier.)

 

"Und dann wurde daraus dies, und dann so und so."

 

(Ich zeichnete die Schritte vom Mund zur Oberlippe zur Oberlippenlinie zum M.)

 

"Und jetzt ist es ein M." (Gesprochen: "Emm".)

 

"Ja, den kenn ich aus der Schule."

 

"Genau, das M kommt vom Mund; und wenn du Mund sagst und nur den Anfang sprichst, dann klingt das....?"

 

" Mu..."

 

"Lass noch mehr weg, nur ganz den Anfang."

 

"Mmmmh..."

 

"Genau, wenn du den Anfang von Mund sprichst, klingt es so: mmh. Der Buchstabe heißt M (gesprochen: "Emm") und er klingt mmmmh. Und Mama fängt auch mit M an, hör mal: mmh. Und so schreibt man Mama: MAMA. Das da ist ein A."

 

"Hatten wir auch schon in der Schule."

(Er nahm mir den Stift ab und schrieb seinerseits:) " Und was heißt das: AMAM?"

 

"Das heißt amam, aber das gibt keinen Sinn, wenn man die Buchstaben in diese Reihenfolge setzt. Aber komm mal mit, wir können es verzaubern."

 

Ich ging mit ihm zu einem Spiegel; da erkannte er das Wort MAMA wieder.

 

Nach dem M nahm ich mir das F vor, und zwar fast wörtlich so, wie Rudolf Steiner es getan hat (jedenfalls so gut ich den Text im Moment auswendig konnte):

 

"Jacob, du hast schon mal einen Fisch gesehen. Stell dir vor, wie er ausgesehen hat. Ein Fisch sieht ungefähr so aus. Sag einmal "Fisch" und sag dann nur den Anfang vom Wort. Wie klingt es, wenn du nur anfängst, Fisch zu sagen, nur den Anfang. Ffff. ...

 

Und aus dem Fisch haben die Menschen dieses Zeichen gemacht, so wurde aus dem Fisch diese Form; und sie klingt Fffff wie der Anfang vom Fisch und sie heißt F (gesprochen: "Eff"). Der Buchstabe heißt F und er klingt Ffff wie der Anfang vom Fisch." (vgl.3, S. 112-125)

 

Dann erzählte ich noch ein bisschen über Bilderschriften, kritzelte ihm drei Kanji-Zeichen (japanische Bilderschriftzeichen) für Sonne, Mensch und Feld aufs Papier und "übersetzte" es so, dass die Sonne scheint und der Mensch aufs Feld geht.

 

Das Ergebnis dieses Vorgesprächs war, dass Jacob meinem Eindruck nach doch irgendwie Lesen und Schreiben lernen wollte, aber in der Schule, bei seiner Lehrerin! Wir beschlossen, dass er nächste Woche mit seinen Eltern und der Lehrerin wiederkommt, um die weitere Vorgehensweise mit ihr zu besprechen.

 

"Denken Sie doch nur einmal, die alten Ägypter haben noch eine Bilderschrift gehabt. Da haben sie in dem, was sie bildhaft fixiert haben, eine Ähnlichkeit gehabt mit dem, was das bedeutet hat. ... Aber diese Schnörkel da an der Tafel, die haben nichts zu tun mit dem "Vater", und just damit soll nun das Kind anfangen sich zu beschäftigen. Es ist gar kein Wunder, dass es das ablehnt." (6)

 

 

Vorgespräch II

Eine Woche später saßen wir wieder am Tisch. Jacob erzählte, dass das M vom Mund kommt und das F vom Fisch. Er nahm einen Zettel und malte die Buchstaben-entwicklung für die Lehrerin auf.

 

"Und guck mal: da scheint die Sonne auf das Feld, und dann geht der Mann dahin."

Fast völlig korrekt zeichnete er die Kanji-Zeichen aus dem Gedächtnis aufs Papier.

 

Die Lehrerin berichtete, dass Jacob seit ein paar Tagen anscheinend einen Zugang zu den neun in der Schule bislang durchgenommenen Buchstaben gefunden habe, denn er konnte sie jetzt teilweise als Laute, wie es in der Schule gehandhabt wurde, benennen. So war also tatsächlich etwas Bewegung in die "Opposition gegen das Lesen und Schreiben" gekommen.

 

Weil aber die Lehrerin meine Herangehensweise in ihren Unterricht nicht einbauen konnte, beschlossen wir "einstimmig" (also mit ausdrücklicher Zustimmung Jacobs), dass er Mitte Dezember eine Woche lang jeden Morgen für drei Stunden zu mir ins Lernstudio kommen sollte, um sicher in den Buchstaben zu werden.

 

"Denn man erzieht die Kinder ja nicht für sich, sondern für das Leben; sie müssen schreiben und lesen lernen. Es handelt sich nur darum, wie man sie lehren soll, damit das der Menschennatur nicht widerspricht." (7)

 

 

Fazit dieser Vorgespräche

Ich freute mich zwar, dass ich offenbar einen Zugang zum Lernweg dieses Kindes gefunden hatte und ihm ein erstes Verständnis unserer Alphabetschrift vermitteln konnte. Gleichzeitig verspürte ich aber einen gewissen Grad an Traurigkeit, wenn nicht sogar Wut: Ist es denn wirklich so lächerlich einfach, Kindern die Buchstaben zu vermitteln? Ich hatte mich doch lediglich konsequent an die Angaben von Rudolf Steiner gehalten, ihn geradezu "naiv" nachgemacht: das M und das F, der Mund und der Fisch. Und fertig.

 

Wie viele Qualen durchleben die "fertigen" Legastheniker, mit denen ich es sonst zu tun habe! Die oft noch im dritten Schuljahr Mühe haben, die Buchstaben zu erken-nen und zu benennen! Allen Verantwortlichen wollte ich am liebsten entgegen schreien:

 

"Lest mal, was Steiner da genau gesagt hat, und macht es genau so! Es ist genial!"

 

"Das, um was es sich handelt, ist, das heute noch entstehen zu lassen, was vom Gegenstand, vom unmittelbaren Leben in die Buchstabenform hinein-führt." (8)

 

 

Die Beratungsplanung

In der Vorbereitung auf die verabredete Beratungswoche mit Jacob musste ich mir nun überlegen, was ich überhaupt wie lehren wollte. Auf jeden Fall wollte ich dabei eigentlich die Lernmittel und Methoden seiner Schule, seiner Lehrerin, berück-sichtigen. Einem Erstklässler gegenüber kann ich doch nicht alles in Bausch und Bogen ablehnen, was in seiner Schule gemacht wird! Außerdem liebt Jacob seine Lehrerin.

 

Ich studierte also das an der Schule verwendete Lernmaterial (Vgl.2.). Jeder Buchstabe wird für sich langsam eingeführt, und Schritt für Schritt werden die Textpassagen erweitert. Der Inhalt ist nicht sehr einfallsreich; besonders verwirrend sind die manchmal tanzenden Schriften, farbig hervorgehobenen Buchstaben und Buchstabenauslassungen bei einigen Wörtern.

 

Aber alles ist natürlich genau durchdacht - unter wissenschaftlicher Beratung von Frau Prof. Dr. Renate Valtin, die sich speziell auf dem Gebiet der Legasthenie einen Namen gemacht hat. Mitte der 70er Jahre habe ich bei ihr hier in Hamburg Seminare über Legasthenie besucht und darüber meine Examensarbeit in Erziehungs-wissenschaft geschrieben. Ich wäre damals völlig begeistert gewesen von dieser Fibel. Aber heute???

 

Sollte ich wirklich damit arbeiten? Sollte ich vielleicht einfach die neun bereits durchgenommenen Buchstaben für Jacob nach der Steiner-Methode noch einmal ein-führen und mit ihm dann die Wörter aus dem Schulunterricht behandeln? Oder wäre es vielleicht sinnvoller, das Alphabet als Ganzes zu erarbeiten, wie es die Davis-Pilotschulen (9) machen?

 

Ich tat das, was ich schon oft getan habe, wenn ich unsicher war, wie Legastheniker am besten lernen: Ich fragte die Betroffenen. Die Umfrage bei meinen jugendlichen Legasthenikern war eindeutig: Wir brauchen das Ganze! Wir brauchen einen kompletten Überblick, sonst weiß man nicht, wieviel da noch kommt. Und all die verschiedenen Schriftarten, sind das alles andere Zeichen?

 

Ich entschloss mich also, doch "radikaler" vorzugehen und Jacobs schulische Lern-mittel erstmal unberücksichtigt zu lassen. Ja: ich wollte jetzt tatsächlich eine "Methoden-Mischung" aus den von R. Davis beschriebenen Methoden und den Angaben von Rudolf Steinern anwenden, wie ich es in meinem Buch damals gefordert hatte.

 

"Von durchschlagender Bedeutung müssen Sie sich vorstellen die erste Schulstunde, die Sie mit Ihren Schülern in jeder Klasse durchmachen." (10)

 

 

15 Stunden Alphabetisierung

Zunächst führte ich mit Jacob ein Orientierungsverfahren für jüngere Kinder durch, die so genannte "Ausrichtung" (11), zusammen mit einer Entspannungsübung. Dann erklärte ich ihm (gemäß dem Vortrag von Rudolf Steiner über die erste Schul-stunde), warum der Mensch überhaupt zur Schule geht, wozu er seine Hände benutzen kann und formte mit ihm Knetrollen. In sein Heft ließ ich ihn gerade und gebogene Linien malen.

 

Die nächste Aufgabe bestand darin, anhand einer Vorlage die 26 Buchstaben des großen Alphabets in Knetmasse nachzuformen; jeder Buchstabe sollte mindestens 5 cm groß sein (12). Jacob ratterte zwar sofort das Alphabet herunter, konnte aber die Buchstaben einzeln nicht benennen.

 

Wir besprachen, welche Linien jeder Buchstabe hat - gebogene Linien, gerade Linien. Ich erklärte, wie das A vom Ausatmen bei der Entspannungsübung kommt, wie die Luft aus ihm herausströmte (13).

 

Ich entwickelte die Schritte von einer Brezel zum B, vom Lachen eines Clowns zum C. Er war sehr schnell in seinem Auffassungsvermögen; manches wollte er in sein Heft übertragen, anderes wieder nicht. Wir machten Pausen, spielten Schach.

 

Nach erfolgreichem A, B und C fühlte ich mich sicher mit meiner Strategie und machte prompt einen Fehler: Das D - das wusste ich - ist besonders einfach, weil sich alle Waldorfschüler, die ich befragt hatte, immer sofort an das D als "Dach" erinnerten.

 

Ich zeichnete also das bewusste Dach-Trapez auf ein Stück Papier:

 

"Kennst du das?"

 

"Ein Bauklotz!"

 

"Tja, ich meine, wenn das noch dabei ist.." Ich zeichnete den Rest des Hauses unter das Dach.

 

"Das ist ein Haus."

 

"Ja, und dies hier oben?"

 

"Das Dach."

 

"Genau!"

 

Jetzt war es ein Leichtes, die Schritte vom Dach zum D zu vermitteln.

 

 

Und es war doch ein Fehler, denn beim späteren Benennen des großen D und beim Wiederholen der Buchstaben sagte er oft: "Das ist der vom Haus, das H!" Zwar hatten wir das H aus der Form eines Hauses entwickelt, aber ohne meine Zusatzkonstruktion beim Dach hätte es keine Verwechslungsprobleme gegeben. Richtig wäre gewesen, aus dem Trapez keine Was-ist-das-Quizfrage zu machen, sondern einfach zu sagen:

 

"Jacob, du kennst doch die Dächer von Häusern. Ein Dach, das sieht ungefähr so aus, nicht?"

 

Mit der Zeit wurde Jacob - natürlich - auch selbst kreativ und wollte eigene Bilder entdecken, aus denen Buchstaben herkommen. Was beginnt zum Beispiel mit E? Wo klingt ein E am Anfang? Bei "Elefant" hatte er eine Idee. Er malte in sein Heft einen Elefanten. Und dann noch einen, diesmal einen mit drei Beinen, dann nur noch die drei Beine und den Bauch. Auf der nächsten Skizze wurden die Beine zur Seite gedreht und waren nun das E. Alles etwas durcheinander auf einem Blatt, aber das E kommt vom Elefanten, das war von nun an klar. (14)

 

Jacob war übrigens nicht der einzige, der in dieser Dezemberwoche etwas gelernt hat. Vor allem ich lernte und lernte. Ich verstand, wie wichtig es ist, dass die Ent-wicklungen vom Gegenstand oder Tier zum Buchstaben Schritt für Schritt einzeln gezeichnet werden müssen. Ich begriff, dass nichts Überflüssiges ins Bild gehört (siehe Dach). Ich erkannte, warum Jacob das J in seinem Vornamen oft als L schrieb, denn das L hatten sie schon in der Schule gehabt, also musste das doch sein Buchstabe sein! Die Drehung ist bei Bildzeichen egal (vgl. ägyptische Schrift-zeichen); es fiel ihm schwer zu glauben, dass L und J zwei verschiedene Buchstaben sind.)

 

Es war harte Arbeit an mir selbst. Es war schwierig, Jacobs Aufmerksamkeit zu halten. Er hakte sofort nach, wenn ich mal vergaß, ihm vorher zu erklären, wieso er etwas machen sollte. Manchmal fürchtete ich, dass ich zu "erwachsen" mit ihm spreche, aber er wollte auf diese Weise ernst genommen und mit einbezogen werden. Er testete meine Grenzen ... unsere Absprachen über den Verlauf unserer Woche ... über die Pausen ... die Regeln beim Schachspielen usw. Aber er machte Fortschritte. Bald kannte er alle großen Buchstaben. Es fiel ihm noch schwer, sie in den richtigen Größenverhältnissen zu kneten, aber langsam nahm er auch das wahr und korrigierte sich.

 

In seinem Heft fanden sich bald viele von uns beiden ausgedachte Buchstaben-entwicklungen: das K aus Kabeln, das G aus einer Gans, das J aus einem Jojo, das W aus der Welle, das R aus einer Rutsche, ein V aus der Vase und ein zweites V aus dem fliegenden Vogel, P und O entdeckte er gleichzeitig im Po.

 

Jacob konnte jetzt seine Geburtstagseinladungen in Großbuchstaben abschreiben. Auch wenn er die einzelnen Wörter nicht lesen konnte, so benannte er doch jeden Buchstaben richtig und kannte seine Form. Ich konnte ihm buchstabenweise diktieren. Seine Schrift war sehr schön geworden, und die Buchstaben waren alle gleich groß! Er dachte sich auch eine kleine Geschichte aus von Mimi, seiner Katze. Ich schrieb sie auf und er schrieb sie sorgfältig ins Heft ab.

 

Wenn wir doch so weitermachen könnten! Aber er wollte nicht ausgesondert bleiben, er wollte zurück in seine Klasse. Um den Anschluss nach der Woche zu vorzubereiten, ließ ich ihn am letzten Tag wieder in seiner Fibel lesen. Dazu brauchten wir aber die dort schon benutzen kleinen Buchstaben - wenigstens der neun bekannten Buchstaben. Ich ließ sie ihn kneten und merkte: die Ganzheit fehlt! Die Größenverhältnisse sind schwer zu erarbeiten, aber er wollte jetzt an seinen "Schulkram".

 

"Wann darf ich wieder in meine Schule?"

 

Er durfte. Die 15 Stunden waren um.

 

"Und damit ihr auch einmal das können werdet, was die Großen können, dazu seid ihr hier" (15)

 

 

April 2002

Jacob war zunächst noch einige Zeit lang jede Woche für ca. eine Stunde zu mir gekommen, und wir haben die kleinen Buchstaben doch noch erarbeitet, d.h. Jacob hat sie geknetet, wir haben sie besprochen. Schließlich kannte er alle Bezeichnun-gen, und außer manchmal b und d verwirrte ihn nun nichts mehr.

 

Inzwischen war es April geworden. Ich hatte Jacob acht Wochen nicht gesehen und war gespannt. Er hatte hin und wieder zu Hause mit seiner Mutter Wörter und kleine Sätze gelesen. Jetzt erklärte er selbstbewusst, dass er meine Unterstützung nicht mehr braucht. Und er hat Recht: Er erlas sich unbekannte Texte, langsam, aber mit einem sicheren Gefühl, und versuchte auch sonst, überall Wörter zu entziffern. Er begann, Eigenes aufzuschreiben, kann dem Leselerngang nun folgen und befindet sich leistungsmäßig im Mittelfeld.

 

Dass wir trotzdem beschlossen haben, noch weiter zusammen zu arbeiten, hat einen anderen Grund: Jacob möchte gerne den Umgang mit der Uhr lernen. Mit Knete wird sicher auch das gehen.

 

Wenn ich meine Aufzeichnungen lese, die ich vor ein paar Wochen in den Computer getippt habe, so kann ich es kaum glauben, wie sicher Jacob heute (April 2002) mit den Buchstaben umgeht. Ich zähle die Beratungsstunden zusammen: es waren insgesamt 24 Stunden - einschließlich derer, in denen wir Schach gespielt haben!

 

Nun gut, jetzt kann man einwenden, dass Jacob dies vielleicht auch im normalen Unterricht geschafft hätte. Vielleicht ist er ja auch gar kein "Legastheniker". Und an Waldorfschulen wäre sowieso alles ganz anders gelaufen. Da hätte er gar nicht so früh Lesen lernen sollen und wäre außerdem sowieso so alphabetisiert worden, wie Rudolf Steiner es angegeben hat.

 

Hier habe ich allerdings meine Fragen. Rudolf Steiner hat in seinen pädagogischen Vorträgen zwar sehr viel zum Schriftspracherwerb gesagt; wenn man methodische Themen auswählen würde und seine Angaben dazu nach der Menge auflisten würde, so wäre wahrscheinlich dies der Themenbereich, den er am meisten erwähnt hat, aber beim genauen Nachlesen wird man vieles nicht finden, was heutzutage Praxis an den meisten Waldorfschulen ist. Vieles liest sich beim genauen Hinschauen sogar ganz anders.

 

An Waldorfschulen wird zum Beispiel bei der Einführung von Buchstaben gern mit Märchen oder anderen Fantasiegeschichten gearbeitet. Ich frage mich: Ist ein solcher Weg nicht ein Umweg? Zumindest ein wesentlich zeitaufwändigerer Weg als der direkte, der unmittelbar aus dem "realen" Leben der Kinder kommt - wie Rudolf Steiner ihn fordert? Führt er nicht in eine "andere" Welt, in der abstrakte Buchstaben eigentlich keinen Sinn ergeben? Haben Märchen und Geschichten im Schulunterricht nicht vielmehr andere, ihrem Wesen gemäße Funktionen?

 

Und welchen Sinn hat das oft jahrelang praktizierte Von-der-Tafel-Abschreiben? Können sich Kinder dabei überhaupt mit dem Text, dem Wort, dem Buchstaben "verbinden" oder malen sie (zumindest die heimlichen "Nichtleser" unter ihnen) einfach nur Zeichen ohne Sinn von der Tafel in ihre Hefte ab? Kann Rudolf Steiner das gemeint haben, wenn er das Lernziel betont, dass ein Kind "aus sich heraus" etwas aufs Papier bringen soll - und zwar (möglichst) schon am Ende der ersten Klasse?

 

Ich bin Steiners Angaben zum Schriftspracherwerb und vor allem den dazu gehörenden menschenkundlichen Begründungen, dem "Warum-auf-diese-Weise-Alphabetisieren" detailliert nachgegangen und habe interessante Entdeckungen gemacht. Diese habe ich ausführlich in meinem Buch "Rätsel Legasthenie" im Teil III dargestellt. Es war nicht mein Ziel, Steiners Originalvorträge zu lesen, um dann einzelne Wörter auf die Goldwaage zu legen. Ich versuchte aber doch zu verstehen, warum er wohl Dieses und Jenes exakt so und nicht anders gesagt hatte. Als ich mein Buch schrieb, war es eine Mischung aus theoretischer Forschungsarbeit und meinen Erfahrungen mit dem bildhaften Denken von Legasthenikern, sodass es mir folgerichtig erschien. Die Umsetzung in die Praxis bei der Arbeit mit Jacob hat dieses nun bestätigt. Es ist für mich nach wie vor ein Forschungsbereich unter der Fragestellung "Wie können alle Kinder erfolgreich in der ersten Klasse alphabetisiert werden?"

 

Erstklasslehrer, die vielleicht aufgrund der Lektüre meines Buches die Buchstaben wie dort vorgeschlagen eingeführt haben oder dieses einmal so versuchen wollen, möchte ich an dieser Stelle bitten, mir ihre Erfahrungen zukommen zu lassen bzw. vielleicht darüber in der Erziehungskunst zu berichten. Vielen Dank im Voraus!

 

"Es handelt sich vielmehr darum, das Kind in diesem ersten Jahr so weit zu bringen, dass es gegenüber dem Gedruckten nicht gewissermaßen wie vor etwas Unbekanntem steht, und dass es die Möglichkeit aus sich herausbringt, irgend etwas in einfacher Weise niederzuschreiben." (16)

 

 

 

1.Rudolf Steiner: "Die pädagogische Praxis", Vierter Vortrag, Dornach 18. April 1923 (GA 306)

 

2. "Fara und Fu", Lesen- und Schreibenlernen mit dem Schlüsselwortverfahren, Schroedel Verlag 1996

 

3. Cornelia Jantzen: "Rätsel Legasthenie" Verlag Urachhaus, 2000

 

4. Ronald D. Davis: "Legasthenie als Talentsignal", Ariston Verlag, 1998

 

5. Rudolf Steiner, zitiert aus F. Carlgren "Erziehung zur Freiheit"

 

6. siehe 1.

 

7. siehe 1.

 

8. Rudolf Steiner: "Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst", Fünfter Vortrag, Oxford 21. August 1922 (GA 305)

 

9. www.dyslexia.com/ und www.davislearn.com/

 

10. Rudolf Steiner: "Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches", Vierter Vortrag, Stuttgart 25. August 1919 (GA 294)

 

11. aus : "Grundlagen für die Bewältigung der Legasthenie, Workshop Handbuch", Davis Dyslexia Association Deutschland

 

12. vgl. 4.

 

13. Vgl. 4. und 3., S.123

 

14. Rudolf Steiner empfiehlt, die Vokale über das Gefühlsleben einzuführen, so wie ich es bei dem A mit Jacob gemacht hatte. Jacobs eigene kreative Idee (E von Elefant) hatte in dieser Situation allerdings für mich Vorrang, da es das Ziel für mich ist, dass der Schüler einen eigenen Bezug zum Buchstaben entwickelt.

 

15. siehe 10.

 

16. Rudolf Steiner: "Erziehungskunst, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge", Erster Lehrplanvortrag, Stuttgart 6. September 1919 (GA 395)

Veröffentlicht in: Erziehungskunst 09/2003

Neu:

"Grundsteinwörter"

- visuell erklärt

Die 100 häufigen

Schlüsselwörter

aus dem Basiswortschatz

Deutsch